Im meiner Coachingpraxis wird mir immer wieder die Frage gestellt „Passt meine Persönlichkeit wirklich zum Arztberuf?“, „Warum strengt mich der Arztberuf so an?“ oder „Wie kann ich meine Persönlichkeit mit dem Arztberuf besser vereinbaren?“. Viele Ärzte fragen sich gerade nach den ersten Berufsjahren, ob sie wirklich am richtigen Platz sind.
Persönlichkeitspsychologie für Ärzte: Stärken und Eigenschaften
Die Psychologie hält viele etablierte Modelle bereit, um die menschliche Persönlichkeit zu beschreiben. Zwei Systematiken möchte ich herausgreifen. Eine seit den 80er Jahren in mehr als 20.000 wissenschaftlichen Arbeiten über Kulturen und Lebensalter hinweg erforschte Systematik ist die der „Big Five“, bei der 5 Charakterdimensionen unterschieden werden. Eine weitere, 2004 veröffentlichte, von mir häufig genutzte Systematik aus der Positiven Psychologie ist das VIA-Stärken-Modell, das 24 konkrete Charakterstärken definiert. Auch hierzu gibt es über 2.000 Veröffentlichungen. Beide Modelle haben das Verständnis, den Charakter bzw. Menschen zu beschreiben und nicht, ihn in seiner Leistungsfähigkeit zu bewerten, d.h. es gibt kein gut oder schlecht, sondern vielmehr kann eine Verteilung von Eigenschaften und Stärken Hinweise darauf liefern, ob die „Passung“ stimmt, d.h. ob die Persönlichkeit in ihrem Umfeld einen guten Platz gefunden hat.
Das ideale Arzt-Persönlichkeitsprofil: Eigenschaften
Die Kategorien der Big Five sind Neurotizismus (zu verstehen als Sensibilität, Resonanzfähigkeit, Feinfühligkeit, Verletzlichkeit), Extraversion (vs. Introversion), Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. In beruflichen Kontexten ist es mehrheitlich von Vorteil, keine sehr niedrige Gewissenhaftigkeit mitzubringen, da diese mit Fehleranfälligkeit, impulsivem Handeln und wenig Organisation einher gehen kann. Davon abgesehen gibt es für alle Charakterausprägungen ein geeignetes Umfeld: so ist z.B. bei Künstlern, Wissenschaftlern oder Architekten eine große Offenheit erforderlich, Politiker, Vertriebler etc. profitieren von einer hohen Extraversion und Rechtsanwälte, Verhandlungsexperten oder Ermittler erhalten berufliche Vorteile durch eine niedrige Verträglichkeit.
Es gibt Analysen anhand der Big Five Systematik, welche Eigenschaftenkombination einem ärztlichen Idealprofil entspricht. Die folgende Tabelle zeigt ein solches Idealprofil anhand der Big Five für den Arztberuf als eine Mischung aus sehr hoher Gewissenhaftigkeit, sehr niedrigem Neurotizismus und tendenziell eher Extra- als Introversion. Ärzte profitieren lt. Untersuchungen von einer eher hohen Verträglichkeit im Miteinander mit Patienten und Kollegen, eine Offenheit für neue Erfahrungen liegt vorteilhaft im moderaten, durchschnittlichen Bereich.

Spannend sind die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, Männer sind statistisch in der Dimension „Neurotizismus“ im Vorteil, denn je höher die Neurotizismus-Werte, desto höher ist die Gefahr von emotionaler Instabilität, Überlastung, Stressanfälligkeit, Unzufriedenheit, Selbstzweifel, Sorgen, Ängsten oder Belastungsanzeichen bis hin zum Burn-Out, insbesondere in einem anspruchsvollen Umfeld, wie es in der Medizin der Fall ist.
Das ideale Arzt-Persönlichkeitsprofil: Stärken
Im Rahmen der VIA (Values in Action) Systematik haben Studien im medizinischen Umfeld analysiert, welche Charakterstärken besonders relevant für Ärzte sind, z.B. in der Ausübung der Arzttätigkeiten, zur Burn-Out-Prävention und zur Kommunikation mit Patienten. Die folgende Sortierung der Stärken hinsichtlich ihrer Relevanz im Arztberuf ist durch diese Studien gestützt, aber auch auf der Basis von Erfahrungen zusammengestellt:

Aus Studien im VIA-Kontext außerhalb der Medizin konnten zwischen Männern und Frauen unterschiedliche Häufigkeiten in der Stärkenbenennung festgestellt werden, die aber in der Effektgröße klein waren. Hier gilt es zu bedenken, dass diese Systematik kein objektives Stärken-Messinstrument ist, sondern vielmehr als Werkzeug zur Selbsteinschätzung dient. Trotzdem sind die Geschlechterunterschiede ggf. für die eigene Reflexion ein Orientierungspunkt, daher habe ich sie mit angegeben.
Wann die Persönlichkeit zum Arztberuf passt
Wenn Sie den Eindruck haben, dass Ihre Eigenschaften und Stärken weitestgehend mit den Anforderungen der beiden oben genannten „Idealprofile“ übereinstimmen, dann bringen Sie die Persönlichkeit mit, die erfahrungsgemäß im Arztberuf dauerhaft gute Leistungen in Einklang mit der eigenen Persönlichkeit erbringen kann. Tatsächlich korreliert die „Mühelosigkeit“ in der Wahrnehmung der eigenen Berufsausübung mit der geeigneten Passung des Charakters.
Wenn sich der Arztalltag mühsam anfühlt
Ich erlebe in meinen Coachings häufig den Fall, dass meine Kund:innen im Bereich des sogenannten „Neurotizismus“ eine hohe Feinfühligkeit und Sensibilität mitbringen. Diese kann in der Patientenbehandlung in Form von Empathie eine Art „Superpower“ sein, im klinischen Alltag bzw. Praxisalltag kann es sich aber anfühlen, als würde eine „Schutzschicht“ fehlen, die für eine aushaltbare Distanz zu den Anforderungen der Menschen und Strukturen sorgt. Die gute Nachricht ist, dass sich eine solche Schutzschicht aufbauen und antrainieren lässt und durch passende Routinen (individuell und bestenfalls in der Organisation) unterstützt werden kann. Dies ist der Grund, warum ich für meine Kund:innen die Themen Stresskompetenz, Resilienz und Selbstwert (mit separaten Coachingausbildungen) als Schwerpunkte gewählt habe, denn hier gibt es mittlerweile gut erforschte Tools und Herangehensweisen für mehr Selbstregulation.
Vielen Kund:innen fehlt auch gerade am Anfang der Karriere die Stärke des Führungsvermögens. Auch das kann sich dann mühevoll anfühlen. Immer wieder berichten mir meine Kund:innen von dem großen Wunsch, einen Führungsstil zu entwickeln, der authentisch zur eigenen Situation und Person passt, z.B. wenn sie aus dem eigenen Team heraus Führungskraft geworden sind und die Kolleg:innen nun Mitarbeiter:innen sind. Auch hier ist die gute Nachricht: Führungsvermögen lässt sich ebenfalls trainieren und ist daher häufig Gegenstand meiner Coachings.
Ob Selbstregulation, Führungsvermögen oder jede andere der 22 VIA-Stärken – die Philosophie hinter dem Modell ist, dass wir alle der 24 Stärken aktiv trainieren und ausbauen können. Unsere Stärken sind also nicht (nur) in die Wiege gelegt, sondern auch unsere eigene Entscheidung und Ergebnis unserer inneren und äußeren Arbeit. Allein diese Denkweise motiviert und macht den Raum auf für Weiterentwicklung!
Wenn besondere Stärken keine Realisierung finden
Nun kann es aber auch sein, dass Sie in Ihrem persönlichen Stärkenprofil feststellen, dass Sie Ihre ausgeprägtesten Stärken gar nicht wirklich aktiv in Ihr berufliches Umfeld hineintragen können und dadurch das Gefühl entsteht, der Job passt eigentlich gar nicht wirklich zu Ihnen und schenkt Ihnen „keine Erfüllung“. Auch das ist ein Coachinganlass! Und auch hier gibt es tolle Gestaltungsmöglichkeiten – meistens mehr am heutigen Arbeitsplatz als viele denken, manchmal in der Freizeit in Ergänzung zur Arbeit und durchaus auch mal in einem anderen Arbeitsumfeld.
Fazit
Wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihre Persönlichkeit und der Arztberuf nicht immer im Einklang stehen, dann sind Sie damit nicht allein. Wichtig ist: Sie können aktiv gestalten, wie Sie mit Belastungen des Arztalltags umgehen und Ihre Stärken ausbauen bzw. noch wirkungsvoller in Ihren Alltag bringen. Coaching eröffnet Ihnen dafür neue Perspektiven – damit aus Zweifeln Klarheit und aus Überlastung ein gelingendes Lebensmodell wird.
Quellen für das ärztliche Idealprofil gemäß der Big Five
- Lievens, F. et al. (2002). Medical students’ personality characteristics and academic performance.
- McManus, I. C. et al. (2004). Stress, burnout and doctors’ attitudes to work are determined by personality.
- Ferguson, E. et al. (2002). Factors associated with success in medical school: Systematic review.
- Hojat, M. et al. (2009). The erosion of empathy in medical school: A longitudinal study.
Quellen für geschlechtsspezifische Unterschiede gemäß der Big Five
- Schmitt, D. P. et al. (2008). Sex differences in Big Five personality traits across 55 cultures.
- Weisberg, Y. J. et al. (2011). Gender differences in personality across the ten aspects of the Big Five.
- Kajonius, P. J. & Johnson, J. (2018). Sex differences in 30 facets of the Five Factor Model.
Quellen für VIA-Stärken in der Medizin
- Lavy, S., Halperin, E., & Littman-Ovadia, H. (2020). Character strengths profiles in medical professionals. Frontiers in Psychology → Teamfähigkeit, Fairness, Ehrlichkeit, Urteilsvermögen besonders relevant für Ärzt:innen.
- Niemiec, R. M., Rashid, T., & Spinella, M. (2019). Character strengths in health care. Journal of Positive Psychology → Freundlichkeit, Hoffnung, Teamfähigkeit fördern Wohlbefinden und Patientenversorgung.
- VIA Institute on Character. (o. J.). Character strengths and health, wellness, and medicine → Selbstregulierung, Freundlichkeit, Urteilsvermögen unterstützen Ärzt:innen in Praxis und Teamarbeit.
- Peterson, C., & Seligman, M. E. P. (2004). Character strengths and virtues. Oxford University Press → Grundlagenwerk; Weisheit, Urteilsvermögen, Besonnenheit als relevante Stärken für medizinische Berufe.
Quellen für geschlechtsspezifische Unterschiede gemäß der VIA-Stärken
- Heintz, S., Kramm, C., & Ruch, W. (2019). A meta-analysis of gender differences in character strengths and age, nation, and measure as moderators. Journal of Positive Psychology, 14(1), 103–112
- Azañedo, C. M., Fernández-Abascal, E. G., & Barraca, J. (2014). Character strengths in Spain: Validation of the Values in Action Inventory of Strengths (VIA-IS) in a Spanish sample. Clínica y Salud, 25(2),
- Shimai, S., Otake, K., Park, N., Peterson, C., & Seligman, M. E. P. (2006). Convergence of character strengths in American and Japanese young adults. Journal of Happiness Studies, 7(3), 311–322.
- Littman-Ovadia, H., & Lavy, S. (2012). Character strengths in Israel: Hebrew adaptation of the VIA Inventory of Strengths. European Journal of Psychological Assessment, 28(1), 41–50
- Park, N., Peterson, C., & Seligman, M. E. P. (2006). Character strengths in fifty-four nations and the fifty US states. Journal of Positive Psychology, 1(3), 118–129.